.. gefangen zwischen Raum und Zeit. Oder: Was macht mich so anders?

Schon als Kind war ich irgendwie .. anders. Ich sprach sehr früh und beschäftigte mich die meiste Zeit allein mit mir und den (für mich) faszinierenden Dingen dieser Welt. Unnahbar und verträumt nannte meine Familie das, was für mich ein Zustand aus Faszination und innerer Ruhe bedeutete. Ich war aktiv, wissbegierig und introvertiert. Ich war viel draußen, lag dort stundenlang unter einem Baum, um das Glitzern der Sonne durch die Blätter zu beobachten oder saß stundenlang an einem Bach, um dem Wasser zuzuschauen. Ich liebte es meine Knöpfe zu sortieren oder Seifenblasen zu beobachten. Ich interessierte mich für die Sterne und für die Gesetze der Natur. „Wie viel wiegt eine Wolke?“, „Wie weit ist der Mond entfernt?“, „Wie lange braucht meine Stimme bis zur Sonne?“ Das waren die Dinge, die meine kleine Kinderseele beschäftigten. Ich war schon als kleines Kind sehr gerechtigkeitsliebend und ein kleiner Freigeist. Ich wollte schon als Kind frei sein.

Als ich in den Kindergarten kam musste ich schnell feststellen, dass weder die anderen Kinder meine Interessen teilten noch die Erzieherinnen Antworten auf meine Fragen hatten. Schon als dreijährige versank ich in einem Alltag, der mich zugleich massiv überforderte wie auch langweilte. Ich verstand die anderen Kinder nicht und sie verstanden mich nicht. Ich konnte mit ihnen einfach nichts anfangen. Kein Problem, in meine Welt passten sowieso keine Menschen. Ich lernte mich anzupassen, nur um meine Welt zu schützen.

Je älter ich wurde, je offensichtlicher wurde, dass mit mir etwas nicht stimmte. Da ich mich nicht integrieren konnte und es auch meist nicht wollte, wurde ich eben von den Erwachsenen integriert. Sie schickten mich zu Kindergeburtstagen, in Vereine in denen auch meine Klassenkameraden angemeldet waren und sie verabredeten mich mit anderen Kindern. Ich war kein Kind zum knuddeln und anfassen, ich hasste Berührungen und ich konnte nicht verarbeiten, wenn jemand meine Ordnung durcheinander brachte. Ich glaube in diesem Alter wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich so wie ich war nicht sein durfte und dass in mir ein Fehler stecken musste. Ich merkte immer deutlicher, dass ich die Menschen um mich rum falsch verstand und auch sie mein Verhalten grundlegend missverstanden. Wo genau das Problem lag war mir damals allerdings noch nicht klar. Ich wurde als „anders“ bezeichnet, als „sonderbar“, gleichzeitig war ich aber nicht dumm. Und genau das war ein großes Problem. Auch den Lehrern war klar, dass ich alles andere als dumm war, also musste mein Verhalten reine Provokation sein. Dass ich einfach nicht verstand, was für andere Menschen doch so klar ist war weder mir noch meinem Umfeld bewusst. Dieses Denken machte die Schule für mich zur Hölle. Nicht nur wegen der alltäglichen Missverständnisse, sondern weil ich plötzlich entdeckte, dass mir das Verhalten der Menschen untereinander nicht nur fremd, sondern fast irreal vorkam. Sie verstanden sich ohne zu sprechen, sie sahen sich an und konnten vorhersagen, wie ihr Gegenüber reagieren würde, sie liebten und sie bildeten Freundschaften. Diese Art der Beziehung erschloss sich mir nicht. Ich verstand nicht, worauf diese Beziehungen basierten. Klar war, dass sie nicht auf Wissen und auf Informationen beruhten. Das machte sie für mich automatisch uninteressant, völlig absurd und vor allem unberechenbar.

Ich lernte in dieser Zeit, dass ich mich anzupassen hatte und dass ich meine Innenwelt nur schützen konnte, wenn ich in Ruhe gelassen wurde. Das wurde ich aber nur, wenn ich war wie die anderen. Ein unheimlich belastender Kreislauf. Ich versuchte ihr Verhalten zu imitieren, machte aber alles nur schlimmer, weil ich die verschiedenen Ebenen und ihre Feinheiten nicht erkannte. Ich erkannte die Mimik meines Gegenübers nicht und scheiterte mit meinen so mühsam auswendig gelernten „Interaktionsformeln“  an der Gegenseitigkeit, die soziale Interaktion ausmacht und die ich nicht verstand. Sobald sich mein Gegenüber also nicht mehr an meine auswendig gelernten Formeln hielt, brach meine Fassade ein. Ich verstand nicht, dass die Menschen Fragen stellten, obwohl sie die Antworten gar nicht interessierten, ich erkannte Ironie nicht also solche und ich bekam die Balance zwischen gewünschter Ehrlichkeit und Höflichkeit nicht hin. Ich wurde als frech, respektlos und provokativ bezeichnet, als Klugscheißer und als Freak. So wurden schnell soziale Interaktionen – sofern sie nicht auf reinen Informationen, auf Fachwissen aufbauten – zum „Spießroutenlauf“, bei dem ich grundsätzlich auf verlorenem Posten kämpfte. Irgendwann gab ich auf und ergab mich in die Rolle, die die Lehrer mir fälschlicherweise zuschrieben. Es war so unglaublich anstrengend mich außerhalb meiner Welt zu bewegen, es kostete so unglaublich viel Kraft und wurde ja doch nie belohnt.
Irgendwann begann ich meine Umwelt und die Menschen darin zu analysieren und zu hinterfragen. Ich lernte ihnen zu zeigen, was sie sehen wollten. Ich lernte erneut auswendig: Lächeln, Hand schütteln, nachfragen, jetzt ein „Wie geht’s?“, jetzt einen schönen Tag wünschen.. Das alles lernte ich auswendig und rufe es noch heute bei jeder Begegnung aktiv ab. Ich dachte immer, dass es leichter wird wenn ich mal erwachsen bin, aber auch das war ein großer Irrtum. Im Gegenteil es wurde mit jedem Schritt Richtung Erwachsensein schwerer und verwirrender. Die Anforderungen wurden höher, die Erwartungen immer unerfüllbarer und mein Bewusstsein für meine „Andersartigkeit“ ausgeprägter. Ich beschäftigte mich mit dem menschlichen Verhalten, ganz besonders bezogen auf die soziale Interaktion. Ich reflektierte mich selbst und analysierte die anderen. Ich lernte, dass die Menschen Mimik deuten können, dass Blickkontakt für sie Informationen bedeuten, dass sie nur selten das meinen was sie sagen und noch seltener das sagen, was sie meinen. Ich lernte, dass sie Absichten in anderen Menschen erkennen können, dass sie die Fähigkeit haben Reize zu filtern und ich lernte, dass das Miteinander, was sie so hoch bewerten für sie etwas Intuitives ist. Ich lernte, dass meine Werte in ihrer Welt nicht zählten. Ich begann zu begreifen wie groß und wie unüberwindbar die Diskrepanz zwischen meiner Welt und der ihren ist und ich begriff, dass ich niemals so sein werde wie sie. Umso mehr ich verstand, was mich so anders machte und mich von der Welt trenne, umso größer und beklemmender wurde meine Verzweiflung.

Ich bin in meiner Glasinnenwelt gefangen. Mit mir allein. Ich kann die Hand ausstrecken, aber alles, was ich erreichen kann sind die gläsernen Grenzen meiner selbst. In einem Zustand ohne Raum und ohne Zeit. Ich bin Autistin.

7 Kommentare zu “.. gefangen zwischen Raum und Zeit. Oder: Was macht mich so anders?

  1. Pingback: Autismus – … gefangen zwischen Raum und Zeit. Oder: Was macht mich so anders? « theolounge.de

  2. wow, ein sehr beeindruckender Artikel. Ich habe ihn auf theolounge.de verlinkt, Ismael Kluever hat mich drauf aufmerksam gemacht. Vielleicht kennst Du den Film „Mary und Max“, der handelt auch von dem, was Du schreibst, ich hatte ihn mehrfach angesehen:

    Falls Du Interesse hast, komm doch bei facebook in die Gruppe theolounge.de, dann könntest Du ab und an Artikel dort verlinken.

    Viele Grüße,
    Marc

    • Vielen Dank für deine Rückmeldung. Freue mich, dass Dir mein Artikel gefällt. Ja, ich kenne diesen Film und mag ihn sehr gerne. Besonders, weil er so „farblos“ ist. Er ist wirklich gut gemacht.

      • Ja, die meisten Szenen sind in diesem vergilbten Grau, bzw. Braun. Immer, wenn Mary Daisy Dinkle und Max Horowitz etwas an Beziehung aufbauen, tritt etwas Farbe in deren Leben, z.B. die Kippa, die Max trägt (er hat sie von Mary erhalten).
        Im Grunde denken beide irgendwo, sie seien unfähig zu einer Beziehung, aber rückblickend stellt Mary fest, dass sie eine Beziehung hatten, und sogar eine sehr tiefgehende.

  3. Eine gelungene Beschreibung. Am Anfang ist es Unverständnis, dann wird es zum Unvermögen und letztlich ist es einfach nur noch ermüdend. Seit ich das nicht mehr können muß, das „sich Anpassen“ geht es mir am besten. Das einzige was mir dabei nicht gefällt ist, dass wir (die Autisten) in der Minderheit sind. Wäre das nicht so, wäre unsere Welt viel schöner.

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